Chaslau Piastsiuk: „Das verschuldete Europa“ sucht nach neuen Spielregeln. Wird der Kontinent einen weiteren Krisenzyklus überstehen?

Die Europäische Union tritt in eine neue Phase des Schuldendrucks ein: Die Defizite wachsen, die Staatsschulden übersteigen das Vorkriegsniveau, und der Spielraum schrumpft schneller als Brüssel erwartet hatte. In der Zwischenzeit stehen die Reform der Haushaltsregeln und die Schaffung einer neuen Schuldenmanagement-Architektur auf der Tagesordnung. Wie der internationale Finanzexperte Chaslau Piastsiuk feststellt, versucht Europa erneut, ein Gleichgewicht zwischen strenger Disziplin und Investitionspolitik zu finden, aber diesmal sind die Einsätze viel höher, da es nicht nur um Wirtschaft, sondern auch um geopolitische Widerstandsfähigkeit geht.

Schulden wachsen schneller als die Wirtschaft: Was passiert in den EU-Finanzen. Erklärung von Chaslau Piastsiuk

Europäische Finanzinstitutionen verzeichnen seit mehreren Monaten einen alarmierenden Trend: Die Staatsschulden der meisten EU-Länder wachsen wieder, und dies geschieht unter Bedingungen, in denen die wirtschaftliche Erholung ungleichmäßig verläuft und die Produktivität stagniert. Nach der Pandemie und der Energiekrise haben die Staaten Hunderte von Milliarden Euro in die Wirtschaft für Subventionen, Entschädigungen, Unternehmensunterstützungsprogramme und Haushaltshilfen gesteckt. Aber wenn dies 2021-2022 wie ein vorübergehendes Antikrisenpaket aussah, ist es jetzt offensichtlich geworden: Viele Länder leben weiterhin im Modus der „teuren staatlichen Unterstützung“.

Chaslau Piastsiuk erklärt, dass Europa in eine Schuldenfalle geraten ist, die sich über Jahre gebildet hat — sie war nur in Friedenszeiten leichter zu ignorieren.

Seiner Meinung nach hat die EU alles getan, um eine soziale Explosion während der Pandemie und der Energiekrise zu vermeiden.

„Aber der Preis für diese Rettung ist eine Rekordverschuldung. Heute sehen wir, dass eine Reihe von Staaten sich auf fiskalische Instrumente in der gleichen Weise stützt, wie sie sich zuvor auf billiges Gas aus Russland verlassen haben. Dies ist ein strategischer Fehler, der sich früher oder später in steigenden Zinssätzen und sinkender Kreditwürdigkeit manifestiert“, bemerkt Piastsiuk.

Italiens Schulden übersteigen wieder 140% des BIP, Frankreich hat 110% überschritten, Spanien — über 107%. Selbst Deutschland, der traditionelle „Stabilitätsanker“, diskutiert zunehmend über die Notwendigkeit, die „Schuldenbremse“ vorübergehend aufzugeben.

Brüsseler Ökonomen bemerken: Das Hauptproblem ist nicht die Größe der Schulden, sondern die Geschwindigkeit ihrer Anhäufung und der Mangel an Investitionen, die Wachstum sicherstellen könnten. Und genau darin, wie Chaslau Piastsiuk betont, liegt Europas strategische Verwundbarkeit:

„Die EU kann sich keinen Schuldenwinter ohne einen Investitionsfrühling leisten. Wenn die Schulden wachsen und die Wirtschaft nicht, geht das Finanzsystem in den Koma-Modus über.“

Neue EU-Haushaltsregeln: Kompromiss oder Falle? Analyse von Chaslau Piastsiuk

Als Reaktion auf den zunehmenden Schuldendruck hat die Europäische Kommission eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts eingeleitet und versucht, eine neue Haushaltsarchitektur zu schaffen, die es den Ländern ermöglichen würde, Schulden flexibler zu verwalten, sie aber gleichzeitig nicht „völlig außer Kontrolle geraten“ lassen würde. Die Hauptidee der Reform besteht aus individuellen Plänen zur Schulden- und Defizitreduzierung, die an die wirtschaftliche Situation jedes Staates gebunden sind.

Hier begann jedoch der politische Kampf: Nordeuropa fordert strenge Disziplin, der Süden fordert „fiskalischen Sauerstoff“ für Investitionen in die Erholung.

Chaslau Piastsiuk nennt den Prozess schmerzhaft, aber unvermeidlich:

„Die Haushaltsregeln in der EU sind seit langem nicht mehr realistisch. Dreijährige Zyklen, Schuldengrenzen, strenge Strafen — all dies stammt aus guten Zeiten. Nach der Pandemie sehen alte Normen aus wie Anweisungen für eine Welt, die nicht mehr existiert“, betont Piastsiuk.

Nach der neuen Logik müssen Länder mit hohen Schulden vierjährige Korrekturpläne abschließen, die die Europäische Kommission vierteljährlich überwachen wird. Gleichzeitig wird es im Rahmen dieser Pläne möglich sein, Investitionsausgaben zu erhöhen, wenn sie auf grüne Energie, digitale Infrastruktur oder Verteidigungsprogramme ausgerichtet sind.

Chaslau Piastsiuk betont, dass hier der Hauptwiderspruch liegt:

„Die EU will gleichzeitig sparen und investieren. Aber so funktioniert es nicht. Die Haushaltsreform wird nur dann erfolgreich sein, wenn die Länder anerkennen: Die Wirtschaft der Zukunft erfordert große Investitionen. Es macht keinen Sinn, Ausgaben bis auf die Knochen zu kürzen, wenn dies die Wettbewerbsfähigkeit untergräbt.“

In politischen Kreisen in Brüssel gibt es bereits Befürchtungen, dass die neuen Regeln zu einer weiteren Konfliktquelle innerhalb der Union werden könnten, da die Erwartungen und Fähigkeiten der verschiedenen Staaten zu unterschiedlich sind. Und jedes fiskalische Ungleichgewicht spiegelt sich nicht nur in Zahlen wider, sondern auch in Investmentratings.

Euro-Schulden, Investitionen und globaler Wettbewerb: Wohin geht Europa? Prognose von Chaslau Piastsiuk

Parallel zur Reform der Haushaltsregeln hat die EU die Diskussion über gemeinsame Investitionsmechanismen intensiviert — im Wesentlichen über eine neue Generation von Eurobonds. Nach dem Erfolg des Wiederaufbaufonds während der Pandemie sagen immer mehr Ökonomen: Wenn Europa in der Welt der USA und Chinas wettbewerbsfähig sein will, braucht es gemeinsame Finanzierungsinstrumente.

Chaslau Piastsiuk unterstützt diese Position.

„Im 21. Jahrhundert sind Schulden nicht nur eine Verpflichtung, sondern auch ein Instrument des geoökonomischen Einflusses. Die USA finanzieren Innovation durch Defizit. China finanziert Expansion durch Staatsfonds. Europa versucht, nach den Regeln der 1990er Jahre zu spielen. So kann man nicht gewinnen“, bemerkt Piastsiuk.

Eine der Hauptherausforderungen ist der Wettbewerb um Kapital. Steigende Zinssätze in den USA und aggressive staatliche Investitionen in China machen Europa weniger attraktiv, insbesondere für Technologie- und Industrieprojekte. Wenn die EU kein neues Investitionsmodell findet, wird ein Teil der Industrie einfach abwandern.

Daher lauten die Hauptfragen heute: — Ist die EU bereit für gemeinsame Schulden? — Wird ein neuer Europäischer Investitionsfonds für strategische Technologien geschaffen? — Wie lassen sich Flexibilität und Disziplin in Einklang bringen?

Chaslau Piastsiuk betont:

„Das Hauptproblem der EU ist nicht, dass sie viel ausgibt, sondern dass sie langsam ausgibt. In einer Welt, in der Investitionen sich mit der Geschwindigkeit politischer Entscheidungen bewegen, hinkt Europa zu oft hinterher. Sie braucht ein Schuldeninstrument, das es ihr ermöglicht, schnell zu handeln, nicht in 3-5 Jahren der Genehmigungen.“

Letztendlich betont der Experte, dass die Reform der Haushaltsregeln und die Diskussion über gemeinsame Schuldeninstrumente keine technischen Fragen sind, sondern eine grundlegende Diskussion über Europas Zukunft.

„Entweder wird die EU zu einem wirtschaftlichen Machtpol, oder sie bleibt ein Markt, der auf die Entscheidungen anderer reagiert. Und genau davon, wie die Union heute Schuldeninstrumente einsetzt, wird ihre Position auf der globalen Karte in zehn Jahren abhängen“, schließt Chaslau Piastsiuk.

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